Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

Wer hätte da sich um Blumen bekümmert?

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Update zu Pflanzenähnlichkeit der Weiber:
Novalis und die Frau als Königin, Mineral und Nahrungsmittel
:

Klar bleibt allein, dass der Begriff der Blauen Blume der deutschen Romantik von Novalis in die „hohe“ Literatur eingeführt wurde.

Allenfalls findet sich ein vager Hinweis auf „eine alte Volkssage, lange vor der Romantik“ in der „jemand zufällig eine blaue Wunderblume“ findet; „durch sie erlangt er Zugang zu verborgenen Schätzen“ — näher werden wir nicht zur Quelle geführt. Schlüssig nachweisbar ist nur Novalis‘ Roman Heinrich von Ofterdingen von 1800, posthum 1802 erschienen. Darin liegt „der Jüngling“ gleich zu Anfang des ersten Kapitels

unruhig auf seinem Lager, und gedachte des Fremden und seiner Erzählungen. Nicht die Schätze sind es, die ein so unaussprechliches Verlangen in mir geweckt haben, sagte er zu sich selbst; fern ab liegt mir alle Habsucht: aber die blaue Blume sehn‘ ich mich zu erblicken. Sie liegt mir unaufhörlich im Sinn, und ich kann nichts anders dichten und denken. So ist mir noch nie zu Muthe gewesen: es ist, als hätt‘ ich vorhin geträumt, oder ich wäre in eine andere Welt hinübergeschlummert; denn in der Welt, in der ich sonst lebte, wer hätte da sich um Blumen bekümmert, und gar von einer so seltsamen Leidenschaft für eine Blume hab‘ ich damals nie gehört.

Heinrich, würde man heute sagen, verarbeitet also im Halbschlaf seinen Tag. Nicht viel später im Text „träumte ihm erst von unabsehlichen Fernen, und wilden, unbekannten Gegenden“:

Berauscht von Entzücken und doch jedes Eindrucks bewußt, schwamm er gemach dem leuchtenden Strome nach, der aus dem Becken in den Felsen hineinfloß. Eine Art von süßem Schlummer befiel ihn, in welchem er unbeschreibliche Begebenheiten träumte, und woraus ihn eine andere Erleuchtung weckte. Er fand sich auf einem weichen Rasen am Rande einer Quelle, die in die Luft hinausquoll und sich darin zu verzehren schien. Dunkelblaue Felsen mit bunten Adern erhoben sich in einiger Entfernung; das Tageslicht das ihn umgab, war heller und milder als das gewöhnliche, der Himmel war schwarzblau und völlig rein. Was ihn aber mit voller Macht anzog, war eine hohe lichtblaue Blume, die zunächst an der Quelle stand, und ihn mit ihren breiten, glänzenden Blättern berührte. Rund um sie her standen unzählige Blumen von allen Farben, und der köstlichste Geruch erfüllte die Luft. Er sah nichts als die blaue Blume, und betrachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal sich zu bewegen und zu verändern anfing; die Blätter wurden glänzender und schmiegten sich an den wachsenden Stengel, die Blume neigte sich nach ihm zu, und die Blüthenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte. Sein süßes Staunen wuchs mit der sonderbaren Verwandlung, als ihn plötzlich die Stimme seiner Mutter weckte, und er sich in der elterlichen Stube fand, die schon die Morgensonne vergoldete.

Halten wir fest: Der romantisch verträumte Jüngling Heinrich erfährt in der Exposition unvermittelt durch einen nicht näher bezeichneten Fremden — vielleicht dem erst später auftretenden Klingsohr — von einer blauen Blume, die gleichfalls nicht genauer denn „lichtblau“ und impilzit von auffallender Schönheit beschrieben wird. Gegen Ende desselben ersten Kapitels tritt zutage, dass auch Heinrichs Vater einst von einer Blume geträumt hat, sich aber nicht an deren Farbe und sonstige Beschaffenheit erinnert:

Ach! liebster Vater, sagt mir doch, welche Farbe sie hatte, rief der Sohn mit heftiger Bewegung.

Das entsinne ich mich nicht mehr, so genau ich mir auch sonst alles eingeprägt habe.

War sie nicht blau?

Es kann seyn, fuhr der Alte fort, ohne auf Heinrichs seltsame Heftigkeit Achtung zu geben. Soviel weiß ich nur noch, daß mir ganz unaussprechlich zu Muthe war, und ich mich lange nicht nach meinem Begleiter umsah. Wie ich mich endlich zu ihm wandte, bemerkte ich, daß er mich aufmerksam betrachtete und mir mit inniger Freude zulächelte. Auf welche Art ich von diesem Orte wegkam, erinnere ich mir nicht mehr. Ich war wieder oben auf dem Berge. Mein Begleiter stand bey mir, und sagte: du hast das Wunder der Welt gesehn. Es steht bey dir, das glücklichste Wesen auf der Welt und noch über das ein berühmter Mann zu werden. Nimm wohl in Acht, was ich dir sage: wenn du am Tage Johannis gegen Abend wieder hieher kommst, und Gott herzlich um das Verständniß dieses Traumes bittest, so wird dir das höchste irdische Loos zu Theil werden; dann gieb nur acht, auf ein blaues Blümchen, was du hier oben finden wirst, brich es ab, und überlaß dich dann demüthig der himmlischen Führung. Ich war darauf im Traume unter den herrlichsten Gestalten und Menschen, und unendliche Zeiten gaukelten mit mannichfaltigen Veränderungen vor meinen Augen vorüber. Wie gelöst war meine Zunge, und was ich sprach, klang wie Musik. Darauf ward alles wieder dunkel und eng und gewöhnlich; ich sah deine Mutter mit freundlichem, verschämten Blick vor mir; sie hielt ein glänzendes Kind in den Armen, und reichte mir es hin, als auf einmal das Kind zusehends wuchs, immer heller und glänzender ward, und sich endlich mit blendendweißen Flügeln über uns erhob, uns beyde in seinen Arm nahm, und so hoch mit uns flog, daß die Erde nur wie eine goldene Schüssel mit dem saubersten Schnitzwerk aussah. Dann erinnere ich mir nur, daß wieder jene Blume und der Berg und der Greis vorkamen; aber ich erwachte bald darauf und fühlte mich von heftiger Liebe bewegt. Ich nahm Abschied von meinem gastfreyen Wirth, der mich bat, ihn oft wieder zu besuchen, was ich ihm zusagte, und auch Wort gehalten haben würde, wenn ich nicht bald darauf Rom verlassen hätte, und ungestüm nach Augsburg gereist wäre.

Der Verlust, ja die Missachtung der Erinnerung an die blaue Blume macht den Vater zu einem Vertreter der Klassik, die jener Romantik voranging, für deren Werte die Blume steht, jedenfalls zu einem nüchternen, strebsamen, der Welt zugewandten, nicht eben schlechten, aber doch prosaischen Menschen.

Ohne die eine oder andere Epoche auf- oder abzuwerten, habe ich es immer für einen Verlust in der Auslegung und Bewertung beider unbestreitbar wichtigen Epochen gehalten, dass niemand weiß: von was für einer Blume Novalis eigentlich redet, die er vielleicht aus einer „Volkssage, lange vor der Romantik“ oder vielleicht aus einem Bild seines Freundes Friedrich Schwedenstein herleiten mag — oder vielleicht auch nicht.

Am 2. Juni 2019 habe ich mich in dieser Angelegenheit an die Mitglieder der Facebook-Gruppe Deutsche Romantik gewandt, wo ich einige Experten für solche Belange vermutete:

Mal eine Frage, die geradezu in die Substanz der deutschen Romantik lappt: Was ist eigentlich die Blaue Blume für eine Blume?

Cicely Mary Barker, The Heliotrope Fairy, 1923, 1944Das klingt so trivial — aber was genau sollte man sich darunter bildlich vorstellen? In Wikipedia finde ich: „Als reale Vorbilder der blauen Blume werden oft heimische Pflanzen angesehen, in Mitteleuropa etwa die Kornblume oder die Wegwarte; Novalis spricht vom blauen Heliotrop.“

Und zwar finde ich das ausschließlich in Wikipedia. Deshalb hab ich mir die Mühe gemacht nachzuschauen, seit wann diese Zuschreibung des Heliotrops kursiert: Eingeführt hat das erst unter der alten Version ein Nutzer namens NikePelera am 7. Januar 2010 um 14:01 Uhr — verbessert aus seiner eigenen, genau 2 Minuten älteren Version mit dem noch nicht verlinkten „Heliothrop“.

Man wird also seit Anfang 2010 an den Heliotrop als Blaue Blume glauben, was man auch öfter so verbreitet findet. Allerdings beziehen sich nach meiner Einschätzung sämtliche Stellen, genannt oder ungenannt, auf diese Wikipedia-Erklärung von einem Nutzer, der nicht erreichbar ist. Das Wikipedia-Bild dazu zeigt eine Kornblume mit der unbelegten Vermutung in unbegründetem Konjunktiv: „Die Kornblume könnte Vorbild für das Symbol gewesen sein“.

Ohne dem unbekannt bleibenden NikePelera zu nahe treten zu wollen, finde ich das in dieser Verbindung wenig glaubwürdig. Dass Novalis von einem Heliotrop, von mir aus auch von der Sonnenwende (Heliotropium) spricht, stelle ich weder in meiner Gesamtausgabe noch irgendwo online fest — abgesehen davon, dass es laut dem Ofterdingen „eine hohe lichtblaue Blume“ sein soll, was ich aus der Zeit und der Stilebene als „hellblau“ übersetzen möchte, und Sonnenwenden eher dunkelblau gedeihen — allerdings auf heutigem Stand der Botanik: „Sowohl krautige Pflanzen, Halbsträucher als auch Bäume kommen vor“, sagt wiederum Wikipedia über die „rund 250 Arten“, was durchaus als „hohe“ Pflanze durchgehen kann, und na gut, dann kannte Novalis vielleicht ja auch hellblaue.

Und dann doch wieder: „Die Blüthenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte“ — wohingegen Sonnenwenden nicht breit, sondern mit doldenähnlichem Blütenstand blühen.

Kurz gesagt bin ich also unglücklich mit der Vorstellung der Blauen Blume als Heliotrop, weil ich mir das weder bildlich vorstellen noch aus der Primär- oder Sekundärliiteratur herleiten kann. Eine bessere Lösung weiß ich auch nicht.

Kann hier jemand sagen, ob ich was übersehen hab oder was denn die Blaue Blume sonst sein könnte?

Darauf erhielt ich noch am selben Tag die Antwort vom Gruppen-Administrator Michael D. Schmid:

Ja, an dem Artikel habe ich auch schon rumgebastelt. :) Zur botanischen Deutung der blauen Blume: Ich persönlich würde die Ansicht vertreten, dass eine allzu einengende Definition der träumerisch-rauschhaften Traumerzählung Heinrichs etwas zuwider läuft. Die Passage appelliert doch an die assoziative Phantasie, und das Symbol der blauen Blume als Inbegriff der Sehnsucht muss sich einer aufklärerisch-wissenschaftlichen Vermessung (Vermessung = Vermessenheit?) entziehen. Oder mit Novalis gesprochen: „Die Aussenwelt ist die Schattenwelt, sie wirft ihren Schatten in das Lichtreich.“ Ich für meinen Teil kann und will die Blaue Blume nicht erkennen, nur erahnen.

Das trug Herrn Schmid fünf Likes und ein „So ist es!“ ein, die wir ihm herzlich vergönnen wollen, allerdings auf seine durchdachte, engagierte und unbestreitbar wahre Antwort, die mir dennoch nicht genügen wollte:

Das gibt Sinn und entspricht wohl auch dem romantischen Geiste :) Ich würde die Blume gern auch benennen wollen. Der Heliotrop scheint mir dann doch aus der Luft gegriffen — und deshalb an einer Stelle, die so ziemlich jeder Interessierte als erstes ansteuern wird, zu vermeiden. Schon klar, Wiki-Artikel verbessern kann jeder, ich selber sogar unter registriertem Nutzernamen; da überlege ich gerade, ob das ersatzlos zu streichen ist, oder wodurch man’s denn verbessern sollte…

Bei meiner Unzufriedenheit mit der Forschung, ja Verderbtheit des allgemeinen Wissensstandes, ist es bis auf weiteres geblieben. Noch fünf Wochen danach wurde mein Facebook-Thread nach oben geholt durch den nicht vollends geistlosen Kalauer anderer Hand:

Ganz einfach: Es handelt sich um eine blûme in pla-tôn.

Ein konstruktiver Versuch wurde noch unternommen durch den ergänzenden Einwurf:

ich würde sagen, gustav mahler hat wie kein anderer die suche nach der blauen blume in musik umgesetzt, zumindest in seinen wunderhorn-symphonien 1-4.

Das war’s. Im übrigen sind wir geworfen auf Ricarda Huch: Die Romantik. Ausbreitung, Blütezeit und Verfall Blütezeit der Romantik: Erstdruck: Leipzig, Haessel, 1899. Ausbreitung und Verfall der Romantik: Erstdruck: ebenda, 1902.

Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.

Ja, genau:

Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott!
Ich habe keinen Nahmen
Dafür! Gefühl ist alles;
Name ist Schall und Rauch,
Umnebelnd Himmelsgluth.

Bild: Cicely Mary Barker: The Heliotrope Fairy, aus: Flower Fairies of the Garden; Blackie, 1944:

Heliotrope’s my name; and why
People call me „Cherry Pie“,
That I really do not know;
But perhaps they call me so,
’Cause I give them such a treat,
Just like something nice to eat.
For my scent—O come and smell it!

How can words describe or tell it?
And my buds and flowers, see,
Soft and rich and velvety—
Deepest purple first, that fades
To the palest lilac shades.
Well-beloved, I know, am I—
Heliotrope, or Cherry Pie!

Soundtrack: wie auf Facebook empfohlen, Gustav Mahler: 4. Sinfonie in G-Dur, 1901,
unter Leonard Bernstein, Mai 1972 im Wiener Musikvereinssaal; Sopran: Edith Mathis:

Written by Wolf

13. November 2020 um 00:01

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