Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

Weihnachtsengel 3: Lasst mich scheinen, bis ich werde (Mit Freuds Worten singt Mignon als Engel ihr Liebeslied der schönen Seele ohne Geschlecht)

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I like in-betweens.

Delirium in: The Sandman: Brief Lives, 1994.

Wer diese Engel eigentlich sind, erfahren wir bei Hilde Domin, Rilke, in Dogma von 1999 und auf dem Christkindlmarkt unseres Vertrauens: geschlechtslose Boten Gottes verschiedenen Charakters; die Existenzform verstorbener Seelen werden sie erst nach der Aufklärung. Wir erfahren es sogar bei Goethe, dort aber nicht ohne einige Interpretationsarbeit, dafür mit mehr intellektuellem Spaß.

Die Arbeit hat uns 1999 Michael Wetzel abgenommen, dessen Habilitationsschrift Mignon. Die Kindsbraut als Phantasma der Goethezeit auf 500 Seiten die Attraktivität kleiner Mädchen ergründet — literaturhistorisch, persönlich unbeteiligt und wahrscheinlich mit absichtlich wenigem, schwarz-weißem und niedrig aufgelöstem Bildmaterial. Das Thema bleibt dennoch brandgefährlich, das Buch ist deshalb selten und wie akademische Schriften so sind, wegen kleiner Auflage teuer. Nicht zum ersten Mal bin ich für die Magazinbestände der Münchner Stadtbibliothek im Gasteig dankbar.

Ich zitiere aus dem Kapitel zur Moral der Engel ausführlich, das Wetzels postuliertes Urbild der protopädophilen Männerphantasie, die etwa zwölfjährige Mignon aus Wilhelm Meisters Lehrjahre in die Mythologie der Engel stellt. Mignons darin enthaltenes, bestechend schönes Lied korrigiere ich (unwesentlich) nach der Frankfurter Ausgabe von Karl Eibl, versehe es mit einem Vorspann und vervollständige es um die vierte Strophe. Normalerweise sind das unzulässige Eingriffe ins Zitat, die mir hier sinnvoll scheinen.

——— Michael Wetzel: Die Moral der Engel, in: Mignon. Die Kindsbraut als Phantasma der Goethezeit,
Habilitationsschrift für die Universität Essen, Wilhelm Fink Verlag München 1999:

Cover Michael Wetzel, Mignon. Die Kindsbraut als Phantasma der Goethezeit, Wilhelm Fink Verlag München 1999Antike Plastiken, barocke Opernbühnen und anatomische Theater sind nicht die einzigen Schauplätze, auf denen es um Androgynität geht. […]

Statt das „weiße“ Engelskleid nur als Übergangsobjekt zu weiblicher Kleidung zu betrachten, will Mignon in ihm wie im heiligen Gewand der Initiation verbleiben, d. h. im Übergangsstadium verharren, hyperbolisch geschlechtslos werden, sterben und verklärt werden: wenn schon kein Knabe, dann gar nichts, „L‘utrumque se parachève en devenant un neutrum.“ [Fußnote: Delcourt, Marie (1972): Deux interprétations du mythe de l’androgyne. Mignon et Séraphita, Revue des langues vivantes No. 38 (1972), S. 233.“]

Hinter dieser Mimikry am sexualfeindlichen Ideal christlicher Moral stehen aber andere symbolische Bezüge. Wie bereits im Zusammenhang mit der Kindfigur des Eros gezeigt wurde, sind Engel auch — wie dieser, Hermes oder Musen — Boten der Götter, also Dämonen. In dieser Bedeutung zeichnet sich noch einmal die Entwicklungslinie der Mignon-Figur im Roman ab, von der elementaren Naturhaftigkeit, deren archaisch dämonischer und in diesem Sinne antik heidnischer Charakter überwunden wird zugunsten einer Erlösungsfigur nach dem Muster christlicher Heilslehre. Insofern tritt nunmehr bewußt die Engelsgestalt an die Stelle des Dämons, eben als das schützende „Bild“, hinter das sich Goethe zurückzieht. Die Erlösung der Natur durch christliche Gnade wird gleichfalls zum Thema von Faust II und in diesem Sinne zu einer Allegorie des 19. Jahrhunderts [Fußnote: Vgl. hierzu Schlaffer, Heinz (1980): Faust zweiter Teil. Die Allegorie des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1980, S. 154 ff. sowie Graham: Goethe. Schauen und Glauben, (Schwere Überfahrt: Natur und Gnade in Goethes Faust), a.a.O., S. 587 ff.“], wie sie z. B. Wagner in der Kundry-Figur seines Parzival aufgreift. Bei Mignons Mutation zum Engel soll aber noch eine andere Dämonie des antiken Archetypus gebannt werden: das homophil-päderastische Erbe der antiken Androgynie nämlich, an dessen Stelle das übersinnliche Bild sublimierter Unschuld tritt.

Goethe kann sich dabei wiederum auf den im Vornamen des Harfners schon zitierten Augustinus berufen, der in seinem Gottesstaat eine klare Trennung zwischen heidnischen und christlichen Medien göttlicher Botschaften vornimmt. Den antiken Dämonen wird dort zwar ein übermenschliches „Wissen“ bescheinigt, was sie aber hochmütig, ja „aufgebläht“ macht und von den Engeln unterscheidet, ist der Mangel an der letzteren gerade verliehenen Liebe, d. h. genauer göttlichen Liebe. Nur um die Sichtbarkeit der körperlichen und zeitlichen Dinge bemüht, sind die Dämonen „böse“ Engel als falsche und trügerische Vermittler der Wahrheit, während die „guten“ Engel die Wahrheit Gottes unmittelbar von Angesicht zu Angesicht schauen: „Vor Gottes Schönheit, die unkörperlich, unwandelbar und unaussprechlich ist, und zu der sie in heiliger Liebe entbrennen, ist ihnen alles, was niedriger ist und nicht ist, was Gott ist, darunter auch sie selbst, verachtenswert, und sie genießen aus dem Ganzen, das ihr Gutsein ist, nur jenes Gut, aus dem sie gut sind.“ [Fußnote: „Augustinus, Aurelius (412–26): Der Gottesstaat, übers. v. C.J. Perl, Salzburg 1966, Bd. II, S. 95.“] Mit anderen, nämlich Freuds Worten der Beschreibung himmlischer Wollustgefühle — im „Zustand ununterbrochenen Genießens“ [Fußnote: „Freud (1911): Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia, Gesammelte Werke, a.a.O., Bd. VIII, S. 262; Freud bezieht sich unter Verweis auf die Wunscherfüllung eines übergeschlechtlichen Lebens ausdrücklich auf Mignon und ihr Engellied (ebd., S. 263, Anm.); vgl. auch Schreber, Daniel Paul (1903): Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, hrsg. v. S. Weber, Frankfurt/M. 1973, S. 80.“] dieses Gutseins — singt Mignon als Engel ihr Liebeslied der schönen Seele ohne Geschlecht:

——— Goethe: Zweites Kapitel in: Wilhelm Meisters Lehrjahre, 1795:

Wilhelm von Kaulbach, Mignon, 1862Es fand sich eben, daß der Geburtstag von Zwillingsschwestern, die sich immer sehr gut betragen hatten, nahe war; ich versprach, daß ihnen diesmal ein Engel die kleinen Geschenke bringen sollte, die sie wohl verdient hätten. Sie waren äußerst gespannt auf diese Erscheinung. Ich hatte mir Mignon zu dieser Rolle ausgesucht, und sie ward an dem bestimmten Tage in ein langes, leichtes, weißes Gewand anständig gekleidet. Es fehlte nicht an einem goldenen Gürtel um die Brust und an einem gleichen Diadem in den Haaren. Anfangs wollte ich die Flügel weglassen, doch bestanden die Frauenzimmer, die sie anputzten, auf ein Paar großer goldner Schwingen, an denen sie recht ihre Kunst zeigen wollten. So trat, mit einer Lilie in der einen Hand und mit einem Körbchen in der andern, die wundersame Erscheinung in die Mitte der Mädchen und überraschte mich selbst. „Da kommt der Engel“, sagte ich. Die Kinder traten alle wie zurück; endlich riefen sie aus: „Es ist Mignon!“ und getrauten sich doch nicht, dem wundersamen Bilde näher zu treten.

„Hier sind eure Gaben“, sagte sie und reichte das Körbchen hin. Man versammelte sich um sie, man betrachtete, man befühlte, man befragte sie.

„Bist du ein Engel?“ fragte das eine Kind.

„Ich wollte, ich wär‘ es“, versetzte Mignon.

„Warum trägst du eine Lilie?“

„So rein und offen sollte mein Herz sein, dann wär‘ ich glücklich.“

„Wie ist’s mit den Flügeln? laß sie sehen!“

„Sie stellen schönere vor, die noch nicht entfaltet sind.“

Und so antwortete sie bedeutend auf jede unschuldige, leichte Frage. Als die Neugierde der kleinen Gesellschaft befriedigt war und der Eindruck dieser Erscheinung stumpf zu werden anfing, wollte man sie wieder auskleiden. Sie verwehrte es, nahm ihre Zither, setzte sich hier auf diesen hohen Schreibtisch hinauf und sang ein Lied mit unglaublicher Anmut.

So laßt mich scheinen, bis ich werde,
Zieht mir das weiße Kleid nicht aus!
Ich eile von der schönen Erde
Hinab in jenes feste Haus.

Dort ruh‘ ich eine kleine Stille,
Dann öffnet sich der frische Blick;
Ich lasse dann die reine Hülle,
Den Gürtel und den Kranz zurück.

Und jene himmlische Gestalten
Sie fragen nicht nach Mann und Weib,
Und keine Kleider, keine Falten
Umgeben den verklärten Leib.

Zwar lebt‘ ich ohne Sorg und Mühe,
Doch fühlt ich tiefen Schmerz genung.
Vor Kummer altert‘ ich zu frühe;
Macht mich auf ewig wieder jung.

Die eschatologische Vision vom Ablegen der „reinen Hülle“ in einer paradiesischen Welt, die selbst der Symbolik des weißen Kleides für jungfräuliche Unschuld nicht mehr bedarf, spielt auf jene Auferstehungsvorstellung aus dem Matthäus-Evangelium (XXII, 30) an, wo nicht mehr zwischen Mann und Frau im sexuellen Sinne unterschieden wird, sondern die Menschen Gottes Engeln im Himmel gleich werden. Mignons Ideal einer völligen Geschlechtslosigkeit des verklärten Leibes rekurriert in diesem Sinne auf die pietistische Vorstellung einer wieder zum Kind gewordenen Engelhaftigkeit.

Jana Martish, December, 19. Dezember 2012

Engelsbilder: Cover Michael Wetzel: Mignon via inframedialität;
Wilhelm von Kaulbach: Mignon, Goethe-Galerie (21 Karten) 1857–1864. Signet: A. Nr. 1187. Verso: F. A. Ackermann’s Kunstverlag, München, Serie 100, Lichtdruck, sign. u. dat. W. Kaulbach 1862 via Jutta Assel & Georg Jäger: Goethe-Motive auf Postkarten. Wilhelm Meisters Lehrjahre: Mignon und der Harfner; 7. Mignon als Engel, Oktober 2011;
Jana Martish: December, 19. Dezember 2012.

Written by Wolf

15. Dezember 2013 um 00:01

4 Antworten

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  1. Ich bin begeistert von dieser Menge an Leseanregungen – habt Dank, Herr Wolf!

    phrixus

    18. Dezember 2013 at 15:23

    • Mach ich doch immer wieder gern :o) Und es ist noch ein Jammer, dass mir der Wetzel bald schon wieder fällig wird, bevor ich ihn anständig ausschlachten kann. Der kennt Leseanregungen…

      Wolf

      19. Dezember 2013 at 13:30

  2. An Mignon
    „Ueber Thal und Fluß getragen
    Ziehet rein der Sonne Wagen,
    Ach! sie regt in ihrem Lauf,
    So wie deine, meine Schmerzen,
    Tief im Herzen,
    Immer morgens wieder auf.

    Kaum will mir die Nacht noch frommen,
    Denn die Träume selber kommen
    Nun in trauriger Gestalt,
    Und ich fühle dieser Schmerzen,
    Still im Herzen,
    Heimlich bildende Gewalt…“

    Ron

    31. Dezember 2020 at 15:53

    • Goethe an Schiller, für den Musenalmanach 1798 per Brief am 28. Mai 1797. Ausschnitt aus der Anmerkung in der Frankfurter Ausgabe: „Indem Goethe dieses Rollengedicht einer Frau an Mignon, die Figur aus dem Wilhelm Meister, sprechen läßt, kann er es an dessen Voraussetzungen partizipieren lassen.“

      Wolf

      31. Dezember 2020 at 18:59


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