Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

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Die Welt geht unter, seit sie entstanden ist, und Medienkritik ist älter als Medien. Ganz sicher aber als die neuen Medien. Vor allem die Kritilk an der Romanleserey ab dem 18. Jahrhundert greift eigentlich erst ab etwa 1997, als „jeder“ ins Internet drängte.

Darauf komme ich anhand Felix Müllers Artikel in der Welt vom 2. November 2012: Als die Lesesucht die Menschen krank machte, der leider seine Quellen allzu lieblos und vor allem bei weitem zu großzügig behandelt. Das Richtige hat wie immer schon vor mindestens drei Jahren die große Kathrin Passig gesagt:

——— Kathrin Passig: Standardsituationen der Technologiekritik, Merkur 1. Dezember 2009:

  1. Wozu zum Kuckuck sollte das denn gut sein? Bisher ging es doch auch so.
  2. Wer will denn sowas?
  3. Die Einzigen, die das wollen, sind zweifelhafte oder privilegierte Minderheiten.
  4. Das geht wieder vorbei.
  5. Die Erfindung wird keine Auswirkungen haben.
  6. Ok es ist sinnvoll, aber nicht gut genug!
  7. Schwächere als ich (die Jungen) können damit nicht umgehen!
  8. Die gute Etikette wird verletzt!
  9. Unsere Denk-, Schreib- und Lesetechniken verschlechtern sich!

Pierre-Antoine Baudoin, La Lecture. c. 1760. Gouache on paper. Musée des Arts décoratifs, ParisVor solchen Ansichten waren die Besten nicht gefeit: Der übermäßige Konsum von Ritterromanen ist das Setting für die Mutter des modernen — jawohl: — Romans, den Don Quixote. Ludwig Tieck berichtet 1792, also 19-jährig, seinem Herzensbruder Wilhelm Heinrich Wackenroder von einer nächtlichen zehnstündigen Leseorgie unter Missbrauch des Romans Der Genius von Carl Grosse, worauf der ihn zur Ordnung ruft:

Gütiger Himmel! auf welchem entsetzlichen Rande hast Du gestanden! […] Ein Buch, was alle Fantasie aufs äusserste umherjagt, über die Gränzen der Besinnung herumjagt!

Es ist dann noch alles gut geworden: Ludwig Tiecks nachmalige Übersetzung des Don Quixote gilt bis auf weiteres.

——— Karl G. Bauer: Über die Mittel dem Geschlechtstrieb eine unschädliche Richtung zu geben, 1787:

Die erzwungene Lage und der Mangel aller körperlichen Bewegung beym Lesen, in Verbindung mit der so gewaltsamen Abwechslung von Vorstellungen und Empfindungen Schlaffheit, Verschleimung, Blähungen und Verstopfung in den Eingeweiden, mit einem Wort Hypochondrie, die bekanntermaassen bey beydem, namentlich bey dem weiblichen Geschlecht, recht eigentlich auf die Geschlechtstheile wirkt, Stockungen und Verderbniss im Bluthe, reitzende Schärfen und Abspannung im Nervensysteme, Siechheit und Weichlichkeit im ganzen Körper.

Und Kindles stehen jetzt dem sinnlichen und bildungsfördernden Genuss des Bücherlesens im Wege, jawoll. Meine größere Befürchtung ist, dass Welt-Autor Felix Müller den besser recherchierten und kenntnisreichen Artikel von Peter Schneider Von der Lese- zur Internetsucht aus dem Schweizer Tagesanzeiger, 30. Oktober 2010 sehr wohl kannte.

Immerhin sind mit dem Gebrauch des Internets die von Karl G. Bauer befürchteten Auswirkungen unschädlich: iPads kann man zur Not mit aufs Klo nehmen, und die vergrößernde, befeuchtende und belebende Wirkung allfälliger Internetseiten auf die Geschlechtsteile wird nicht einmal von ihren schärfsten Kritikern geleugnet — von denen am wenigsten. Die Tieck-Übersetzung des Don Quixote steht heute online, wobei man nicht einmal auf die Illustrationen von Gustave Doré verzichten muss.

Bild: Pierre-Antoine Baudoin: La Lecture, um 1760. Gouache auf Papier. Musée des Arts décoratifs, Paris.

Written by Wolf

8. November 2012 um 00:01

Veröffentlicht in Aufklärung, Herrschaft & Revolte

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