Neruda hungert im Ödland von Quitratúe
Update zu Keine Geschichte über Blut, Krieg und Verwandlungen,
Wie man sich eine Schrift besieht und
Weil er bei den Mahlzeiten so entsetzlich isset:
Mit Pablo Neruda bin ich leider nie richtig warm geworden, obwohl ihm in der Zeit meiner künstlerischen Bewusstwerdung eine wunderschöne dreibändige Augabe gewidmet war, die gesamte Lyrik in drei beeindruckend umfänglichen Bänden. Luchterhand 1984, sind seither selten und teuer geworden. Nerudas Mischung aus Liebesgetön und chilenischer Landespolitik mag dem Heranwachsenden etwas unzugänglich erscheinen, aber das ist nicht des schätzbaren Herrn Nerudas Schuld.
In letzter Zeit kursieren von seinen Gedichten gelegentliche Auswahlen von eher schmückender Funktion und Kenntnisse alternder Studienräte, die 1984 auf dem Nürnberger Bardentreffen immer zu den Ethno-Bands aus Nicaragua gegangen sind und sich die Luchterhand-Ausgabe leisten konnten. Dabei hat Neruda außer einigen nicht ganz ungenießbaren Gedichten eine nachvollziehbare poetologische Auffassung der Poésie impure, 1935 , übersetzt von Hans Magnus Enzensberger in: Text und Zeichen, Heft 1/1955:
[…] So soll die Dichtung aussehen, die wir suchen: verwüstet von der Mühe der Hände wie von einer Säure, vom Schweiß und von Rauch durchdrungen, eine Dichtung, die nach Urin und nach weißen Lilien riecht, eine Dichtung, in der eine jede Verrichtung des Menschen, erlaubt oder verborgen, ihre Spuren hinterlassen hat.
Eine Dichtung, unrein wie ein Anzug, wie ein Körper, von Speisen befleckt, eine Dichtung, die Handlungen der Scham und der Schande kennt, Träume, Beobachtungen, Runzeln, schlaflose Nächte, Ahnungen; Ausbrüche des Hasses und der Liebe; Tiere, Idyllen, Erschütterungen; Verneinungen, Ideologien, Behauptungen, Steuerbescheide.
Die geheiligte Vorschrift des Madrigals; die Gesetze des Tastens, Riechens, Schmeckens, Sehens und Hörens; das Verlangen nach Gerechtigkeit; das sexuelle Verlangen; das Geräusch des Meeres; ohne die Absicht, irgend etwas auszuschließen, ohne die Absicht, irgend etwas gutzuheißen; der Eintritt in die Tiefe der Dinge in einem Akt jäher Liebe, und das dichterische Produkt: von Tauben, von Fingerabdrücken besudelt, mit den Spuren von Zähnen und Eis übersät, möglicherweise angenagt von Schweiß und Gewohnheit, bis es die zarte Glätte eines rastlos geführten Werkzeugs, die überaus harte Sanftmut von abgenutztem Holz, von hochmütigem Eisen erreicht hat. Auch die Blume, den Weizen und das Wasser zeichnet diese Tastbarkeit, diese einzigartige Konsistenz aus. […]
Das ist selbst schon fast lyrisch; Neruda scheint seine Poetologie also zu vertreten und zu leben. Auf dem einen oder anderen Wege ist mir eins seiner Cien sonetos de amor, das ist: Hundert Sonette über die Liebe zugelaufen, nämlich die Nummer XI, das ist: 11, die er seiner nachmaligen dritten Ehefrau Matilde Urrutia schenkte. Auf dem Buchmarkt ist die Sammlung seit 1998 präsent als Hungrig bin ich, will deinen Mund, das ist: eine Auswahl von 68 aus den 100. Markus Müller formuliert es in Nerudas Ode an die Liebe. Große Lücke in der Übersetzung des Werkes des Nobelpreisträgers geschlossen in den Lateinamerika Nachrichten 284, Februar 1998 so:
Bis auf die Wahl des Titels „Hungrig bin ich, will deinen Mund“, der leider an Klaus Kinskis gar nicht erhabene Adaptation Villons „Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund“ erinnert, ist dem Übersetzer und Herausgeber Fritz Rudolf Fries ein großartiger Wurf gelungen.
Die genannte Lücke bestand offenbar bis 1998, also lange nach der Luchterhand-Ausgabe. Dabei wird Sonett XVII in Patch Adams von Tom Shadyac 1998 an mehreren Stellen zitiert, unter anderem der ikonischen Beerdigungsszene; Sonett XII erscheint 2002 in einem Bollywood-Fetzen, dem ich lieber nicht näher nachspüren möchte, beim ersten Treffen in einer Bar und später noch einmal als gleich doppeltes Zitat; und Sonett XVII erscheint vollständig in der Folge The Naked Man von How I Met Your Mother, vierte Staffel 2008.
Mir selbst liegen weder der große dicke Luchterhand noch die Auswahlübersetzung von Rudolf Fries 1998 vor, und mit Verlaub, ohne Herrn Neruda oder seinen Verfechtern nahe zu treten, beabsichtige ich vorerst weder Geld noch Regalmeter an ihn zu wenden.
Deshalb war eine eigene Übersetzung fällig. Ich war so frei, die Metaphern mit „essen“ und „fressen“ zurückzufahren, weil sie in der Ballung unangemessen kannibalistisch wirken. Die formale Bindung besteht aus fünf Vershebungen mit jambischem Auftakt; reine Jamben oder schöner: Daktylen waren ohne inhaltliche Verluste nicht durchzuhalten. Das „Ödland“ aus einer bestehenden Version war zu schön, um es um meiner eigenen Originalität willen links liegen zu lassen, und „herumspüren“ ist das, was nicht gerade ein Puma, aber immerhin Mephisto angesichts Gretchens Zimmer tut.
Und nein, ich kann kein Spanisch. Aus den Vorlagen einer Google-Übersetzung auf Deutsch und Englisch und den Resten eines Latinums lässt sich heute viel machen, aber ich werde mich bereitwillig über Fehler und Stilblüten belehren lassen.
——— Pablo Neruda:
aus: Cien sonetos de amor, 1959:
Soneto XI
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Sonett XI
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Haben die Haare schön: Cover Pablo Neruda: Cien sonetos de amor, 1959;
Silvia Sala, Bergamo, 17. Oktober 2013 und 3. Mai 2012,
aus: Self Portraits.
Soundtrack aus dem modernen Chile: Fother Muckers: A la primera, aus: No Soy Uno, 2007:
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