Doctor Fausti Weheklag und Höllenfahrt

Das Habe-nun-Ach für Angewandte Poesie.

Schlossers fliegendes Schaf

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Update zu Der sehr junge Goethe und sein Vorhangstoff
und Ein ganz anderer Kerl als der Fuchs oder Wolf (so, gerade so bist du):

Goethes Schwager Johann Georg Schlosser machte sich durch seine Heirat unglücklich und Goethes Schwester Cornelia gleich mit.

Maya Schulz, Das Schlosser-Haus in Emmendingen, Badische Zeitung 25. März 2021

Schuld war, wie immer, niemand, allenfalls die Verhältnisse. Formuliert hat sie Rousseau, überwiegend 1762 im Émile, und dort im 5. Buch Sophie oder die Frau:

[Die Erfahrung] zeigt zugleich, wie töricht es ist, über den Vorrang oder die Gleichberechtigung der Geschlechter zu streiten. Als ob nicht jedes von beiden, wenn es nach seiner Sonderveranlagung die naturbedingten Ziele anstrebt, vollkommener wäre, als wenn es dem anderen ähnlicher zu sein trachtete!

Das war anno 1776 noch durchaus neu, die Bekannt- und Beliebtheit von Rousseaus Philosophie von der Aufklärung bis in die Romantik hinein überhaupt nicht überschätzbar: Da war endlich die Geschlechtergleichheit immerhin unter gebildeten Ständen theoretisch begründet und nicht länger abzustreiten. Es könnte so schön sein; die historischen Defizite in der Praxis sind bekannt und bis in die Postmoderne nicht vollends ausgeräumt.

Auch dieses Gegenteil lässt aus dem gleichen Buch noch auf derselben Seite herauslesen, denn Rousseau

gesteht [der Frau] die indirekte Macht über den Mann zu. Die Natur habe das schwache Geschlecht mit Eigenschaften ausgestattet, „um sich das starke untertan zu machen“. Denn sie besitzt ihre Reize, denen der Mann nicht zu widerstehen im Stande ist. Die Frau ist befähigt, ihm Widerstand zu leisten, den er wiederum zu brechen bemüht ist. Auf diese Weise fühlt er sich als starker, kühner Sieger über die zurückhaltende, ängstliche Frau. Da sie den Mann mit Ihren Reizen stets beherrschen könnte, hat die Natur sie darüber hinaus mit Schamgefühl ausgestattet, ihn dagegen neben der Leidenschaft mit Vernunft, wodurch sich beide gegenseitig und auch selbst kontrollieren, sowie einander ergänzen.

Mit diesen Rousseau-Stellen erklärt es Astrid Jung in Das Frauenbild nach Jean-Jacques Rousseau 2004:

Die Frauen herrschen nicht, weil die Männer es wollen, sondern weil es die Natur so will. […] Derselbe Herkules, der den fünfzig Töchtern des Thespios Gewalt anzutun glaubte, musste bei Omphale spinnen; […] Diese Herrschaft gehört den Frauen und kann ihnen nicht genommen werden, selbst wenn sie Missbrauch damit treiben. Hätten sie sie jemals verlieren können, so hätten sie sie längst verloren.

Nun stand der ach so starke Mann Johann Georg Schlosser seinem Selbstverständnis nach einem Herkules entschieden näher als einem märchenspinnenden Jammerlappen. Als nicht-adeliger Bürgerlicher der oberste Beamte der Markgrafschaft Baden-Hachberg und Herrscher über zwanzigtausend Seelen, hat er mit „seiner“ Cornelia nicht die Schwester eines Bestsellerautoren und angehenden Dichterfürsten geheiratet, sondern die Tochter eines reichen privatisierenden Kaufmanns. Umso anrührender, wie er seinen ehelichen Liebeskummer in eine im bedrückendsten Sinne naive Parabel bettet, um sie in einer literarischen Zeitschrift öffentlich zum Druck zu befördern.

——— Johann Georg Schlosser:

Eine Ehestandsscene.

Parabel in Heinrich Christian Boie, Hrsg.: Deutsches Museum. Zehntes Stück, Oktober 1776, Seite 889 f.:

Friedrich Pecht, Stahlstich Cornelia Friederica Christiana Schlosser, née Goethe, ca. 1773Ich hatte ein Schaf, das lag in meinem Schoos, trank von meinem Becher, aß mein Brod, und wandelte mit mir auf der Weide. Es kannte keinen Trank als meinen, keine Speise als meine; gieng nicht schneller als ich, und war glücklich bey mir.

Da kam ein Mann und lehrte es fliegen. Es trank Aetherluft, speiste Morgenthau und flatterte um die Sonne.

Ich size seitdem allein und weine. Es schwebt über mir, sieht mich weinen, bedaurt mich, kann aber nicht mehr gehn meinen Gang, nicht mehr essen meine Speise, und ekelt vor meinem Trank.

Warum hat der Mann nicht gewartet, bis wir zusammenfliegen konnten?

Da oben schwebt’s, und sieht Engel lieben, und keinen Engel, der’s liebt; sieht herab, einen Menschen, der’s liebt, und ekelt vor seiner Liebe.

Ach ewige Gerechtigkeit! Warum nahm der Mann dem Schafe das, womit es mich zahlen sollte, und gab ihm, was mir nicht nüzt, und mich nicht zahlt? Was hilft’s, daß es ihm zahlt? Es war ihm nichts schuldig.

Schlosserhaus Emmendingen, 2007

Bilder:

  1. Maya Schulz: Auf den Spuren von Goethes Schwester durch Emmendingen,
    Badische Zeitung 25. März 2021;
  2. Friedrich Pecht: Stahlstich Cornelia Friederica Christiana Schlosser, née Goethe, ca. 1773;
  3. Flominator: Schlosserhaus. Als Grempp’scher Hof seit 1588 im Besitz der Herrschaft. Wohnsitz für die Oberbeamten der Markgrafschaft Hachbarg. Hier lebte und starb Cornelia Goethe (1774-87, Gattin des Oberamtmanns Johann Georg Schlosser, der 1774-87 in Emmendingen wirkte). Nach Verkauf Nutzung als Brauereigaststätte. Erstes Haus in Emmendingen mit elektrischer Beleuchtung, 9. September 2007.

Soundtrack: Kate Bush: And Dream of Sheep, aus: Hounds of Love, 1985, offizielles Live-Video 2014:

Written by Wolf

19. November 2021 um 00:01

Veröffentlicht in Das Tier & wir, Sturm & Drang

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