Alle wurden bei diesem Anblicke still und atmeten tief über dem Wellenrauschen: Regensburg bis Grein
Update zu Die deutsche Sirene vom Zwirbel im Rhein in die Bronx:
Ich komm ja nicht viel raus. In Regensburg war ich in den letzten Jahrzehnten ein paarmal, weil mir da ein einziger freier Tag und ein Bayern-Ticket für momentan 23, zu zweit 28 Steinchen reichen. Außerdem ist da das Stammhaus vom Bücher Pustet, der seinerzeit die Bücher aus dem Winkler-Verlag hergestellt hat. Heute ist das ein ehrbarer, seiner Geschichte und Heimat bewusster Glückwunschkarten-Outlet mit Bestseller-Ecke wie die Buchhandlungen in allen anderen Innenstädten auch, aber man interessiert sich halt.
Empfohlen wird das Café Prock in der zentral gelegenen Blaue-Lilien-Gasse 3, vor allem der Innenhof, in dem man nicht viel hört außer die Donau plätschern. Die hat nämlich keine 100 Meter Luftlinie entfernt ihren Regensburger Strudel, zu dem wir gleich kommen. Das Café Prock indessen hat Obstkuchen, neben den sie nicht extra hinschreiben müssen, was es mal für Obst war, beispielhaft saftigen Mohnkuchen, einen alle Beschwerden lindernden Eiskaffee, Bayern 3 auf dem Klo, mindestens eine hübsche Bedienung, ein freundliches Interview in deren anheimelndem Oberpfälzer Zungenschlag, wie’s im Dom war, und sympathischerweise keine Website. Jedenfalls war das zuletzt 2014 so.
Weil ich meistens, wenn überhaupt, nur samstags raus kann, muss ich schreibtischreisen, was in Zeiten von Google Earth schon in Ordnung geht, außer es zieht mich nach Nordgrönland. Regensburg ist dagegen digital recht ordentlich erschlossen. Zu unterscheiden gilt es — gerade auch literaturhistorisch mit Hilfe der Bayerischen Staatsbibliothek — den Regensburger Strudel und die Donauwelle.
Beide klingen wie Kuchen aus dem Café Prock, sind aber Bestandteile der ungezähmten Donau. Im literarischen Teil kommt uns die Bayerische Staatsbibliothek, die offenbar den Tourismus unterstützt, mit Eichendorff:
——— Bernhard M. Baron:
Oberpfälzer Litera-Tour. Regensburg II
Bayerische Staatsbibliothek fürs Literaturportal Bayern:
Am 12. Mai 1807 besuchte der oberschlesische Dichter der deutschen Hoch-Romantik, Joseph Freiherr von Eichendorff (1788-1857) – von Passau kommend – die Donaustadt Regensburg auf seiner Reise zur Universität Heidelberg. Eichendorff schreibt in sein Tagebuch : „Es ist herzergreifend, wie diese alte berühmte Stadt jetzt durch die Auflösung des Reichstages öde und leer ist; nur die Kirchen schauen erhaben über die kleinlichen Jahre, einsam aus den alten kräftigen Zeiten der Herrlichkeit herüber.“
Und am 14. Mai 1807 heißt es:
Früh fort. […] Schöne Aussicht auf Regensburg, das in dem fernen Tale mit seinen alten Türmen wie eine ungeheure Ruine daliegt.
Exakt ein Jahr später, am 13. Mai 1808, reist Joseph Freiherr von Eichendorff wieder von Heidelberg zurück ins heimatliche Schloß Lubowitz (Oberschlesien), ab Regensburg aus finanziellen Gründen mit einem Postschiff donauabwärts. Die Beschreibung der Donaufahrt im 1. Kapitel seines Jugendromans Ahnung und Gegenwart (1815 gedruckt) gibt die Stimmung dieser romantisch (idealisierten) Schiffsreise wieder:
Die Sonne war eben prächtig aufgegangen, da fuhr ein Schiff zwischen den grünen Bergen und Wäldern auf der Donau herunter. […] Wer von Regensburg her auf der Donau hinab gefahren ist, der kennt die herrliche Stelle, welche der Wirbel genannt wird. […] Sie fuhren soeben an einer kleinen Stadt vorüber. Hart am Ufer war eine Promenade mit Alleen. Herren und Damen gingen im Sonntagsputze spazieren, führten einander, lachten, grüßten und verbeugten sich…
Der Mensch geht gänzlich im Bildhaften auf, in der wunderbaren Farbenpracht der Natur. Seine Seele ist eins mit der vom göttlichen Geist durchwehten Natur. Für die Quellen Eichendorffs Dichtung werden Naturerlebnis und Geschichtserlebnis ein Leben lang Gültigkeit haben.
Im ungezähmten Donauteil kommt uns Wikipedia mit der Donauwelle:
Dieser ehemals sehr starke Strudel unterhalb von Grein in Oberösterreich auf der Nordseite der Insel Wörth hat seit 1866 durch Sprengungen seine Gefährlichkeit für die Schifffahrt verloren. Flussaufwärts liegt in Regensburg der Regensburger Strudel unterhalb der Steinernen Brücke. Er resultiert aus den engen Brückendurchlässen.
Etwas passt also nicht zusammen. Fragen wir gleich die Staatsbibliothek persönlich, was mehr Erfolg verspricht als persönliche Fragen an WIkipedia. Ich so am 12. März 2016 (hier zweckmäßig korrigiert):
Ist denn am Anfang von „Ahnung und Gegenwart“ tatsächlich von Regensburg die Rede? Ich würde es immer gern glauben, dass der Roman dort spielt, es heißt aber, wie richtig angeführt: „Wer von Regensburg her auf der Donau hinab gefahren ist, der kennt die herrliche Stelle, welche der Wirbel genannt wird.“
Nun kam Eichendorff ja bis Wien, das geht von Regensburg noch weit flussabwärts. Und der Wirbel an der Steinernen Brücke heißt ortsüblich, im Tourismus und der Zeitgeschichte nicht „Wirbel“, sondern „Strudel“. Ein Wirbel, der „Wirbel“ oder geläufiger „Donauwelle“ heißt, kommt erst an der Grenze zwischen Ober- und Niederösterreich bei Neustadtl an der Donau, unweit einer Burg Hausstein, die 1854 gesprengt wurde — die mithin Eichendorff noch gesehen haben kann.
In dieser ober-/niederösterreichischen Variante wäre in „Sie fuhren soeben an einer kleinen Stadt vorüber“ die kleine Stadt wohl Grein, weil man — der Landkarte nach zu schließen, ohne je die Örtlichkeit besucht zu haben — Neustadtl nicht vom Donauufer aus sehen kann.
Die Frage, die Regensburg aus dem litera-touristischen Rennen werfen kann, ist: wo denn in der Regensburger Variante der „seltsam geformt[e] Fels, von dem ein hohes Kreuz trost- und friedenreich in den Sturz und Streit der empörten Wogen hinabschaut“, stehen soll. Das soll doch nicht der Dom sein, für den Eichendorff ehrfürchtigere Worte gefunden hätte.
Es ist ein schöner Gedanke, die Orte der Handlung noch besuchen zu können. Gibt es denn eindeutige Belege für die Möglichkeiten Regensburg oder Grein?
Mir liegt nichts daran, dem Literaturportal Bayern, das sich eigens auf die erste Hand der Bayerischen Staatsbibliothek verlässt, das touristische Geschäft zu verhageln; immerhin will jemand in Regensburg Strudelrundfahrten für 8,90 Euro pro Person verkaufen. Im Gegenteil, ich finde solche Erschließungen und Zusammenarbeiten löblich und fahr gern selber mal überall hin. Da will ich gar kein Spielverderber sein. Bloß ein Besserwisser.
Rettung und Erleuchtung bringt einmal mehr eine der gewissenhaft durchkommentierten Gesamtausgaben der Bibliothek Deutscher Klassiker — im Band Eichendorff: Ahnung und Gegenwart, Sämtliche Erzählungen I. Die Kommentare sind von Wolfgang Frühwald und Brigitte Schillbach und verraten:
Nach [Eichendorffs historisch-kritischer Gesamtausgabe] 3 (1913), S. 452 paßt die Beschreibung „auf den Donauwirbel bei Grein, wie er in einer gleichzeitigen Reisebeschreibung Bertuchs dargestellt wird. (Bemerkungen auf einer Reise von Thüringen nach Wien im Winter 1805 bis 1806. Weimar [im Verlage des Landes-Industrie-Comptoirs] 1808, I 49.) Der Felsen mit dem Kreuz wäre der heute gesprengte Felsen Hausstein.“
Sag ich doch: Es gibt eindeutige Belege für die Möglichkeiten Regensburg oder Grein. Ist das jetzt arg nickelig von mir aufzuwerfen, dass der angeführte Artikel Regensburg II streng gerechnet aus einem Literaturportal Bayern entfernt werden müsste? Fordern mag ich das nicht; ein Literaturportal Niederösterreich, wo er hingehört, wäre ohnehin erst noch zu gründen.
Mist, für Österreich reicht mir das Bayern-Ticket nicht. Dafür haben sie in Grein bestimmt noch besseren Eiskaffee. Krieg ich für meine Entdeckung von jemandem einen Reisegutschein oder so was? Ist bestimmt schön da.
Zur Feier der Schönheit folgt der Eichendorff-Ausschnitt im ununterbrochenen Zusammenhang — aus einer gewissen diebischen Entdeckerfreude heraus extra garniert mit Bildern aus Grein:
——— Joseph von Eichendorff:
Ahnung und Gegenwart
Erstes Kapitel, 1812, gedruckt bei Johann Leonhard Schrag, Nürnberg 1815:
[…] Wer von Regensburg her auf der Donau hinabgefahren ist, der kennt die herrliche Stelle, welche der Wirbel genannt wird. Hohe Bergschluften umgeben den wunderbaren Ort. In der Mitte des Stromes steht ein seltsam geformter Fels, von dem ein hohes Kreuz trost- und friedenreich in den Sturz und Streit der empörten Wogen hinabschaut. Kein Mensch ist hier zu sehen, kein Vogel singt, nur der Wald von den Bergen und der furchtbare Kreis, der alles Leben in seinen unergründlichen Schlund hinabzieht, rauschen hier seit Jahrhunderten gleichförmig fort. Der Mund des Wirbels öffnet sich von Zeit zu Zeit dunkelblickend, wie das Auge des Todes. Der Mensch fühlt sich auf einmal verlassen in der Gewalt des feindseligen, unbekannten Elements, und das Kreuz auf dem Felsen tritt hier in seiner heiligsten und größten Bedeutung hervor. Alle wurden bei diesem Anblicke still und atmeten tief über dem Wellenrauschen. Hier bog plötzlich ein anderes fremdes Schiff, das sie lange in weiter Entfernung verfolgt hatte, hinter ihnen um die Felsenecke. Eine hohe, junge, weibliche Gestalt stand ganz vorn auf dem Verdecke und sah unverwandt in den Wirbel hinab. Die Studenten waren von der plötzlichen Erscheinung in dieser dunkelgrünen Öde überrascht und brachen einmütig in ein freudiges Hurra aus, daß es weit an den Bergen hinunterschallte. Da sah das Mädchen auf einmal auf, und ihre Augen begegneten Friedrichs Blicken. Er fuhr innerlichst zusammen. Denn es war, als deckten ihre Blicke plötzlich eine neue Welt von blühender Wunderpracht, uralten Erinnerungen und nie gekannten Wünschen in seinem Herzen auf. Er stand lange in ihrem Anblick versunken, und bemerkte kaum, wie indes der Strom nun wieder ruhiger geworden war und zu beiden Seiten schöne Schlösser, Dörfer und Wiesen vorüberflogen, aus denen der Wind das Geläute weidender Herden herüberwehte.
Sie fuhren soeben an einer kleinen Stadt vorüber. Hart am Ufer war eine Promenade mit Alleen. Herren und Damen gingen im Sonntagsputze spazieren, führten einander, lachten, grüßten und verbeugten sich hin und wieder, und eine lustige Musik schallte aus dem bunten, fröhlichen Schwalle. Das Schiff, worauf die schöne Unbekannte stand, folgte unsern Reisenden immerfort in einiger Entfernung nach. Der Strom war hier so breit und spiegelglatt wie ein See. Da ergriff einer von den Studenten seine Gitarre, und sang der Schönen auf dem andern Schiffe drüben lustig zu:
Die Jäger ziehn in‘ grünen Wald
Und Reiter blitzend übers Feld,
Studenten durch die ganze Welt,
So weit der blaue Himmel wallt.Der Frühling ist der Freudensaal,
Viel tausend Vöglein spielen auf,
Da schallt’s im Wald bergab, bergauf:
Grüß dich, mein Schatz, vieltausendmal!
Sie bemerkten wohl, daß die Schöne allezeit zu ihnen herübersah, und alle Herzen und Augen waren wie frische junge Segel nach ihr gerichtet. Das Schiff näherte sich ihnen hier ganz dicht. Wahrhaftig, ein schönes Mädchen! riefen einige, und der Student sang weiter:
Viel rüst’ge Burschen ritterlich,
Die fahren hier in Stromes Mitt‘,
Wie wilde sie auch stellen sich,
Trau mir, mein Kind, und fürcht dich nit!Querüber übers Wasser glatt
Laß werben deine Äugelein,
Und der dir wohlgefallen hat,
Der soll dein lieber Buhle sein.Hier näherten sich wieder die Schiffe einander. Die Schöne saß vorn, wagte es aber in dieser Nähe nicht, aufzublicken. Sie hatte das Gesicht auf die andere Seite gewendet, und zeichnete mit ihrem Finger auf dem Boden. Der Wind wehte die Töne zu ihr herüber, und sie verstand wohl alles, als der Student wieder weiter sang:
Durch Nacht und Nebel schleich ich sacht,
Kein Lichtlein brennt, kalt weht der Wind,
Riegl‘ auf, riegl‘ auf bei stiller Nacht,
Weil wir so jung beisammen sind!Ade nun, Kind, und nicht geweint!
Schon gehen Stimmen da und dort,
Hoch überm Wald Aurora scheint,
Und die Studenten reisen fort.
So war es endlich Abend geworden, und die Schiffer lenkten ans Ufer. Alles stieg aus, und begab sich in ein Wirtshaus, das auf einer Anhöhe an der Donau stand. Diesen Ort hatten die Studenten zum Ziele ihrer Begleitung bestimmt. Hier wollten sie morgen früh den Grafen verlassen und wieder zurückreisen. Sie nahmen sogleich Beschlag von einem geräumigen Zimmer, dessen Fenster auf die Donau hinausgingen. Friedrich folgte ihnen erst etwas später von den Schiffen nach. Als er die Stiege hinauf ging, öffnete sich seitwärts eine Türe und die unbekannte Schöne, die auch hier eingekehrt war, trat eben aus dem erleuchteten Zimmer. Beide schienen übereinander erschrocken. Friedrich grüßte sie, sie schlug die Augen nieder und kehrte schnell wieder in das Zimmer zurück.
Unterdes hatten sich die lustigen Gesellen in ihrer Stube schon ausgebreitet. Da lagen Jacken, Hüte, Federbüsche, Tabakspfeifen und blanke Schwerter in der buntesten Verwirrung umher, und die Aufwärterin trat mit heimlicher Furcht unter die wilden Gäste, die halbentkleidet auf Betten, Tischen und Stühlen, wie Soldaten nach einer blutigen Schlacht, gelagert waren. So wurde bald Wein angeschafft, man setzte sich in die Runde, sang und trank des Grafen Gesundheit. Friedrich war heute dabei sonderbar zumute. Er war seit mehreren Jahren diese Lebensweise gewohnt, und das Herz war ihm jedesmal aufgegangen, wie diese freie Jugend ihm so keck und mutig ins Gesicht sah. Nun, da er von dem allem auf immer Abschied nehmen sollte, war ihm wie einem, der von einem lustigen Maskenballe auf die Gasse hinaustritt, wo sich alles nüchtern fortbewegt wie vorher. Er schlich sich unbemerkt aus dem Zimmer und trat hinaus auf den Balkon, der von dem Mittelgange des Hauses über die Donau hinausging. Der Gesang der Studenten, zuweilen aus dem Geklirre der Hieber unterbrochen, schallte aus den Fenstern, die einen langen Schein in das Tal hinaus warfen. Die Nacht war sehr finster. Als er sich über das Geländer hinauslehnte, glaubte er neben sich atmen zu hören. Er langte nach der Seite hin und ergriff eine kleine zarte Hand. Er zog den weichen Arm näher an sich, da funkelten ihn zwei Augen durch die Nacht an. Er erkannte an der hohen Gestalt sogleich das schöne Mädchen von dem andern Schiff. Er stand so dicht vor ihr, daß ihn ihr Atem berührte. Sie litt es gern, daß er sie noch näher an sich zog, und ihre Lippen kamen zusammen. Wie heißen Sie? fragte Friedrich endlich. Rosa, sagte sie leise und bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen. In diesem Augenblicke ging die Stubentür auf, ein verworrener Schwall von Licht, Tabaksdampf und verschiedenen tosenden Stimmen quoll heraus, und das Mädchen war verschwunden, ohne daß Friedrich sie halten konnte.
Bilder: Library of Congress, Prints and Photographs Division: Steinerne Brücke Regensburg um 1900 mit Regensburger Strudel flussab der Brückenpfeiler, Photochrom-Print zwischen 1890 und 1905;
Tourismusamt Grein; ebenso der Soundtrack: Austria24TV One Run — Greinstadtgeflüster, der in One-Shot-Technik — eine hohe Schule — ungefähr den Blick eines Greiners zurück auf Eichendorff 2012 nachstellen müsste:
Bonus Track: Zur Versöhnung mit dem Literaturportal Bayern die Regensburger Domspatzen: Als wir jüngst in Regensburg waren, sind wir über den Strudel gefahren, aus: Rex Gildo & Gäste: Gestatten Sie, Herbst 1981:
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