Lamento lacrimoso in Zick-Moll
Update zu den Ausführungen über Ich hatt‘ einen Kameraden und das Winterreise-„Gute Nacht“ und Wou is denn des Gerchla und Lieblingsbiber:
Für die Fremdwortgegner („Kann man das denn nicht auf Deutsch sagen?!“) unter uns: Tonsetzer ist deutsch und bedeutet: Komponist. Die meisten Tonsetzer, die Sie kennen, waren technisch nicht in der Lage, ihre gesetzten Töne auf CDs festzuschreiben, wofür sie aus Ungnade ihrer frühen Geburt nichts können. Vielmehr mussten sie ihre Musik jedes liebe Mal wieder live vorspielen oder von Musikergruppen unterschiedlicher Mannstärke vorspielen lassen. Das hat bestimmt oft Spaß gemacht, jedenfalls kannten sie es nicht anders.
Wenn die das all die Jahrhunderte lang geahnt hätten, dass ihre Smash-Hits mal in dutzend-, wenn nicht hundertweise (ich grüße den Monsignore Vivaldi) verschiedenen Aufnahmen verkauft werden! Dann hätten sie ihren Hervorbringungen vielleicht anständige Namen verpasst. „Klavierkonzert Nr. 21 A-Dur“, dass ich nicht lache, soll das ein Name sein? Und dann muss man noch den Tonsetzer dazusagen, weil möglicherweise zwei oder zwanzig oder zweihundert Leute 21 und mehr Klavierkonzerte gesetzt haben, vielleicht auch das eine oder andere in A-Dur, und es dann mit keinem halbwegs einprägsamen Namen versehen.
Im international gewordenen Musikhandel ist es Unsitte geworden, die Packungsbeilagen zu Klassik-CDs mehrsprachig abzufassen: meistens in Englisch, Französisch und Deutsch, gerne noch Italienisch, besonders bei solchen Tonsetzern, die mit einem i enden. Das Problem dabei ist: Auch die Tonarten heißen in den Sprachen jeweils anders. Ich habe Jahre meiner kulturellen Bewusstheit an die Einsicht gewendet, dass es von Bach nicht eine h-Moll-Messe und dann noch eine b-Moll-Messe vom entgegengesetzten Pol des Quintenzirkels gibt, sondern dass B Minor Mass englisch für h-Moll-Messe steht: h heißt auf englisch B. So deutsch kann ein Tonsetzer gar nicht sein, dass man ihn nicht für den amerikanischen Markt übersetzen müsste.
Klassik-Labels klagen, dass sie nichts verkaufen. Das würde ich auch tun, wenn ich etwas zu verkaufen hätte, aber haben die mal überlegt, dass sie ihre Produkte mit etwas Schlüssigem beschriften könnten? Die Fragen sind doch:
- Ist in der Kassette mit der Complete Keyboard Music das gleiche drin wie in den Sämtlichen Werken für Klavier?
- Macht das was, wenn die einen auf Cembalo spielen, die anderen auf Spinett, ganz Verwegene auf Virginal und die für den internationalen Markt auf Harpsichord?
- Unterscheiden die Engländer wirklich sorgfältig genug zwischen Violinsonaten und Violinkonzerten, und
- sind dann die Violin Sonatas und Violin Concertoes die gleichen wie die String Sonatas und String Concertoes oder wieder eine ganz andere Werkgruppe?
- Gehen jetzt 40 oder 46 oder 50 Symphonien auf Mozart, und wer hat die Zuschreibungen erschlossen und warum — „und wenn ja, wie viele“?
Ganz hinterfotzig sind die Tonarten: Okay, ein Fis ist kein Ges, wie man seit dem Pythagoreischen und dem Syntonischen Komma weiß. Folglich ist ein E-is erst recht kein F, obwohl genau den nötigen Halbton höher, oder nicht? Dann kann eine Cellosonate in H kein Cello Concerto in B sein, obwohl sie in der gleichen Tonart steht — weder ein Kreuz höher noch ein b tiefer. Entlang anderer Parallelen ist eine englische major-Tonart kein französischer majeur-Ton, weshalb die Symphony in G minor (von wem? Und welche Nummer?) nicht zwingend mit einem sol mineur anfangen muss. Ist denn wenigstens ein C sharp ein ut majeur?
Anfangs freut man sich, dass die CDs so schöne dicke Booklets haben: So ausführliche Liner Notes, da kann man was lernen! Und dann sind sie drei- bis viersprachig in verschiedenen Stadien des Lektorats, mit Librettoversionen, die nur satirisch gemeint sein können. Die notorisch unterbezahlten Übersetzer kann dabei kein Vorwurf treffen: Übersetzen Sie mal angemessen Beschimpfungen wie „Vergeh, frevelnder Gauch!“ (Wagner) und bleiben Sie dabei ernst. Die restlichen 32 Seiten gehen drauf für Werbung für einen Haufen mies abgemischter „Klassik-Hits“, die höhenlastiger Ihre Lautsprecher zerscheppern als Klassik-Radio durch ambulante Telephon-Ohrenstöpsel. Man spart keineswegs Geldes Wert, indem man den lizenzfreien, beliebig zusammengewürfelten Vier-neunundneunzig-Schrott neben der Kasse kauft, dagegen fährt man mit dem spontan überteuert anmutenden Zeug von cpo und dhm normalerweise richtig gut.
Und Vorsicht: Johann Sebastian Bach hat eine Matthäus-Passion geschrieben. Eine schöne. Sein Sohn Carl Philipp Emanuel Bach auch. Eine schöne. Aber eine andere. Nochmal 19 Euro 99. Muss man wollen. Dafür ist die Markus-Passion von Carl Philipp Emanuel klingende singende Realität, die Markus-Passion von Johann Sebastian eine Hypothese auf Doppel-CD.
Außerdem klingen die Passionen, vor allem die nach Johannes, in kleiner Besetzung (Gardiner) um Klassen besser und durchschaubarer als das überarrangierte massenhafte Gedröhn (Klemperer). Dass man die Empore der Thomaskirche mit halb Leipzig vollstellen kann, muss nämlich nicht heißen, dass es Bach jeden Sonntag getan hat: Die Stellenanweisung „Mit Hauffe“ bezeichnet die andächtige Kirchengemeinde, nicht nur die Nachthemdknaben auf der Empore. So, das zu verbreiten war mir ein Anliegen.
Ich stehe kaufkräftig und konsumwillig im Plattenladen und muss Tonarten umrechnen und Übersetzungen übersetzen. Und meine Frau wundert sich, wieviel Zeit ich bildungsbürgerlicher Schnösel da verbringen kann, und Sony (oder in manchen Fällen Play It Again Sam), dass ich dann doch einfach die Narrow von Soap&Skin kaufe. Die heißt wenigstens anständig.
So tragt a jeds sei Packerl. #firstworldproblems
Bilder: Happy Squid, 15. März 2010;
Soundtrack: Hohe Messe in h-Moll, BWV 232, 1733 unter Karl Richter, aus der hohen Zeit der Viynl-LP 1969 — so ein Ding, für das man ein paar unverdrossene YouTübner immer noch abbusseln möchte.
Bonus Tracks: Soap&Skin: Narrow, 2012 als Playlist.
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