1. Advent: Vom Büblein, das überall mitgenommen hat sein wollen
Weiteres Update zum unterschätzten Rückert:
Des Frühlings beklommnes Herz (diesmal richtig):
Zu Weihnachten 1813 schenkte der 25-jährige Friedrich Rückert seiner kleinsten, damals dreijährigen Schwester Maria eine Sammlung aus fünf selbstgemachten Gedichten, die er innerhalb einer einzigen Nacht ausgearbeitet und niedergeschrieben haben wollte, und die heute ein sträflich vernachlässiger Kinderklassiker ist.
Maria starb 1835, als sie ihrerseits 25 war — so wie Rückerts Leben allgemein viel zu voll von Todesfällen viel zu junger Menschen war. Über Mariechen ist wenig überliefert, aber durch diese Sammlung war ihr zerbrechliches Leben nicht ganz umsonst.
Rückerts Familie stammte aus Oberfranken, der Tonfall und manche Wort- und Satzbildungen sind daher unverkennbar fränkisch und eignen sich unschlagbar zum Vorlesen.
Der Erstveröffentlichung in Marias Todesjahr stellte Rückert einen Epitaph als Motto voran:
——— Friedrich Rückert:
Fünf Märlein zum Einschläfern für mein Schwesterlein.
Zum Christtag 1813:
Einst hab‘ ich Märchen zum Einschläfern dir gesungen,
Nun haben dich in Schlaf gesungen Engelzungen.
Um zu erwachen dort, bist du hier eingeschlafen;
Fahr wohl! im Sturme sind wir noch, du bist im Hafen.Johannis 1835.
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Vom Büblein, das überall mitgenommen hat sein wollen
Denk an! das Büblein ist einmal
Spazieren gangen im Wiesental;
Da wurd’s müd‘ gar sehr,
Und sagt: Ich kann nicht mehr;
Wenn nur was käme,
Und mich mitnähme!
Da ist das Bächlein geflossen kommen,
Und hat’s Büblein mitgenommen;
Das Büblein hat sich auf’s Bächlein gesetzt,
Und hat gesagt: So gefällt mir’s jetzt.Aber was meinst du? das Bächlein war kalt,
Das hat das Büblein gespürt gar bald;
Es hat’s gefroren gar sehr,
Es sagt: Ich kann nicht mehr;
Wenn nur was käme,
Und mich mitnähme!
Da ist das Schifflein geschwommen kommen.
Und hat’s Büblein mitgenommen;
Das Büblein hat sich auf’s Schifflein gesetzt,
Und hat gesagt: Da gefällt mir’s jetzt.Aber siehst du? das Schifflein war schmal,
Das Büblein denkt: Da fall‘ ich einmal;
Da fürcht‘ es sich gar sehr,
Und sagt: Ich mag nicht mehr;
Wenn nur was käme,
Und mich mitnähme!
Da ist die Schnecke gekrochen gekommen,
Und hat’s Büblein mitgenommen;
Das Büblein hat sich in’s Schneckenhäuslein gesetzt,
Und hat gesagt: da gefällt mir’s jetzt.Aber denk! die Schnecke war kein Gaul,
Sie war im Kriechen gar zu faul;
Dem Büblein ging’s langsam zu sehr;
Es sagt: Ich mag nicht mehr;
Wenn nur was käme,
Und mich mitnähme!
Da ist der Reiter geritten gekommen,
Der hat’s Büblein mitgenommen;
Das Büblein hat sich hinten auf’s Pferd gesetzt,
Und hat gesagt: So gefällt mir’s jetzt.Aber gib Acht! das ging wie der Wind,
Es ging dem Büblein gar zu geschwind;
Es hopst d’rauf hin und her,
Und schreit: ich kann nicht mehr;
Wenn nur was käme,
Und mich mitnähme!
Da ist ein Baum ihm in’s Haar gekommen,
Und hat das Büblein mitgenommen;
Er hat’s gehängt an einen Ast gar hoch,
Dort hängt das Büblein und zappelt noch.Das Kind fragt:
Ist denn das Büblein gestorben?
Antwort:
Nein! es zappelt ja noch!
Morgen gehn wir ’naus und tun’s runter.
Bilder: Frohes Weihnachtsfest! Adressseite: „Meisteraufnahmen“. Echte Photographie.
„Ross“ Verlag, Berlin SW 68. Beschrieben, aber nicht gelaufen. Handschriftlich: 1934;
Bezirkslehrerverein München: Das Kaulbach-Güll Bilderbuch. Auswahl aus Friedrich Gülls Kinderheimat mit Bildern von Hermann Kaulbach, Verlag der Jugendblätter (Carl Schnell) München 1910, Titelillustration: Weihnachten;
Gesegnete Weihnacht. Adressseite: Amag [Albrecht & Meister AG, Berlin-Reinickendorf], gelaufen.
Poststempel unleserlich, ca. 1934,
alle via Goethezeitportal.
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